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Mittwoch, 13. November 2019 Lebensraum Zurzibiet 21
Bräuche erstmals dokumentiert hat. Ro- von Stalders erstem Wörterbuch. Danach tikon-Mitarbeiter Niklaus Bigler ein erstes
chholz gehörte zu den ersten Mitarbeitern wurde sie dem Stadtarchiv Luzern überge- Mal fest, dass es sich beim Verfasser der Lis-
des neuen Idiotikons und trug ein nicht we- ben und dort verwahrt. te vermutlich um den Chorherren und Stift-
niger als 600 Seiten umfassendes Dokument kustos Franz Michael Maria Blunschi hand-
zusammen. Seine Belege sind im Idiotikon le. Der aus Zug stammende Chorherr des
mit «Rochh.» angegeben. Auch Rochholz’ Stifts Zurzach sei Mitglied der «Gesellschaft
Schüler Otto Sutermeister (1832 – 1901), für vaterländische Kultur im Aargau» gewe-
Friedrich Mühlberg (1840 – 1915) und Ja- sen und diese Gesellschaft habe sich damals
kob Hunziker (1827 – 1901) gehörten später für die Förderung des Stalderschen Idioti-
zu den Aargauer Wörtersammlern. Ein be- kons eingesetzt. In den Protokollen der Ge-
kannter Wörtersammler aus der Umgebung sellschaft sei ein Franz Michael Maria Blun-
des Zurzibiets war beispielsweise der Eh- schi als Mitarbeiter in Zurzach explizit fest-
rendinger Lehrer und Volksbotaniker Ja- gehalten. Das von Staub vermittelte Kürzel
s
kob Leonz Frei (1817-1877). Viele frühere F. M. B. L. L . müsste am Schluss wohl nicht
s
Ausdrücke und Synonyme für einheimische als L . (Lucernensis) gelesen werden, son-
s
Pflanzen sind seinetwegen erhalten. Eben- dern als T . (Tugiensis = von Zug).
falls zu nennen wäre Jakob Dreifuss, der vie-
le Ausdrücke aus dem Jiddischen in der Um- Mundart des Alltags
gebung des Surbtals zusammengetragen hat.
Am Thema dran geblieben ist in den Folge-
Ein Zurzacher als Pionier jahren auch Hans-Peter Schifferle, Sprach-
forscher aus Döttingen und langjähriger
Allerdings irrt, wer meint, dass mit dem Chefredaktor des Schweizerischen Idioti-
Sammeln von Mundartbegriffen erst nach kons. Ein Arbeitsleben lang haben ihn die
dem berühmten Aufruf durch Friedrich zahlreichen Wortbeiträge des Zurzacher
Staub im Jahr 1862 begonnen wurde. Be- «Anonymus» begleitet und fasziniert. In ei-
reits in den Jahrzehnten davor gab es Wör- nem in diesem Jahr veröffentlichten Beitrag
tersammler, die für zwei Auflagen einer zur genannten Wörterliste bestätigt er nicht
Vorgängerpublikation des heutigen Idi- nur die Identität des «Anonymus» – Franz
otikons Listen mit Mundartbegriffen zu- Gedenktafel am Grabmal von Chorherr Michael B. Lunschi Tugiensis’ – sondern
sammentrugen. So auch im Kanton Aar- Blunschi im Verenamünster Zurzach, auf- präsentiert zugleich (und erstmals) eine so
gau. Der Chorherr und spätere Kustos des genommen durch Hans-Peter Schifferle. vollständig wie mögliche Rekonstruktion
Zurzacher Stiftkapitels, Franz Michael Ma- der Wörterliste. Über 140 Wörter und Re-
ria Blunschi (1770-1831), war einer dieser dewendungen hat Schifferle zusammenge-
ganz frühen Wörtersammler. Ursprüng- Eine verschollenen Liste tragen, die auf dem Original aus den Jah-
lich stammte er aus Zug, wurde 1792 dann ren 1814/17 gestanden haben müssen. Diese
aber zum Chorherrn in Zurzach ernannt. Blunschis Liste stand dann in der Folge Wörterliste ist in der Festschrift für Elvi-
Ab 1798 war er Kustos und ab 1801 Schaff- auch dem ersten Team des 1862 neulancier- ra Glaser «Raum und Sprache» publiziert.
ner des Stifts. Er wurde von Zeitgenossen ten Schweizerischen Idiotikons zur Verfü- Schifferle betont, dass die ursprüngliche
als ausgezeichneter Mann bezeichnet, der gung. Wie die Wörterliste genau ausgese- Wörterliste damit noch nicht vollständig re-
bis in seine späten Lebenstage die Seele des hen hat, bleibt allerdings im Dunkeln. Im konstruiert sei – es fehlen dazu schätzungs-
Stiftkapitels gewesen sei. Luzerner Stadtarchiv verliert sich nämlich weise noch immer 30 Wörter –, dass sie aber
Nach heutigem Wissensstand gilt Blun- die Spur zum Originaldokument, die Wör- doch so vollständig sei, dass man ein Bild
schis Wörterliste aus den Jahren 1814/1817 terliste aus den Jahren 1814/17 gilt bis heute gewinnen könne von der Zurzacher Mund-
sogar als erster Beitrag zur Zurzacher als verschollen. Erhalten geblieben sind nur art, die den Wörtersammler Blunschi damals
Mundart und überhaupt als erstes Wör- die im Jahr 1870 durch Friedrich Staub an- interessiert habe. Der Gesamtcharakter der
terbuch aus dem Aargau, das diesen Na- gefertigten Exzerpte und Zettel zur Wörter- Wörterliste wird erstmals richtig fassbar.
men auch verdient. Zusammengetragen hat liste. Staub hatte die Original-Wörterliste, Grossmehrheitlich enthält sie Wörter, die in
Blunschi seine Liste für Franz Joseph Stal- die als Quartheft gebunden war, im Oktober Zurzach damals gebräuchlich waren, dane-
der, der in den Jahren 1806/1812 zwei Bän- 1870 ausgeliehen, exzerpiert und danach ans ben, vermutlich aufgrund von Blunschis Her-
de eines Idiotikons herausbrachte. Diese Stadtarchiv retourniert. Seither fehlt vom kunft, auch Wortgut aus dem Kanton Zug.
beiden Bände waren Vorgänger des heu- Original jede Spur. 19 der Wörter auf der Liste sind nur durch
tigen Schweizerischen Idiotikons und leg- Heute ist im Zusammenhang mit der Lis- Blunschi bezeugt, er ist im Schweizerischen
ten das Fundament für ein erstes grösse- te schnell von Franz Michael Maria Blun- Idiotikon also die einzige Quelle dafür.
res, schweizerdeutsches Wörterbuch. Für schi die Rede, lange war aber nicht klar, Blunschi beschreibt Wörter aus dem Be-
die Überarbeitung der ersten Ausgabe des aus welcher Hand die Wörterliste tatsäch- reich der Landwirtschaft – Lugghuuffe,
frühen Wörterbuchs hatte Stalder im Vor- lich stammte und wer hinter dem Kürzel «F. Stöcklitag, Tännrislete – Wörter aus dem
s
wort seines 1812 veröffentlichten zweiten M. B. L. L .» stand. Franz Joseph Stalder Alltag und dem Haushalt – Gampbrunne,
Bandes um Ergänzungen aus einzelnen hat den Namen des Wörtersammlers sicher Chettnöötlistich, Schaffrette, Underrüttel –
Regionen gebeten. In der Folge entstan- gekannt, aber eben nicht überliefert. Und und Wörter zu Brauchtum und Volksglau-
den zahlreiche grössere und kleinere loka- so haben Friedrich Staub und sein Team be – Näbespììl, Fünfi spanne, Tschäppeli.
le Wortsammlungen. Bei der Wörterliste bei Wörtern von dieser Liste, die im Idio- Eine besondere Vorliebe scheint er für mo-
von Blunschi, die nur wenige Jahre danach tikon aufgenommen wurden, als Referen- ralisch zweifelhafte und tabuisierte Berei-
zusammengetragen wurde, handelt es sich zen meistens «AaZ. (An. 1815)» oder «AaZ che, für Schimpfnamen und für abwertende,
vermutlich um eine dieser Ergänzungen. (und Umg.) 1815» angegeben. «Aa» steht für negativ gemeinte Adjektive gehabt zu haben.
Sie trug folgenden Titel: «Beytrag z. Schw. Aargau, «Z» für Zurzach und «An.» für An- Schleppsack, Tschalööri, g’schägglet, tuube-
Idiot. von F. J. Stalder. Aufgenommen in onymus. tänzig, glüggle, maugge, pflüdere und weefe-
Zurzach i. d. J. 1814/17 von F. M. B. L. Ls». Mehrfach gingen Sprachforscher in den re sind nur einige der Ausdrücke. Ausdrü-
Die Wörterliste floss teilweise, wie andere letzten Jahrzehnten den Spuren dieses «Bey- cke, von denen wir, hätte sie Franz Michael
Sammlungen, in die von Hand geschriebe- trags» nach – und brachten zunehmend Licht Maria Blunschi nicht notiert anno 1814/17,
ne und 1832 abgeschlossene Überarbeitung ins Dunkel. 1984 hielt der damalige Idio- gar nicht wüssten, dass sie je existiert haben.